Teil 1: – Was vorher war

Der Sommer war für die Kleine Rosa unbeschwert.
Bedrohungen schwiegen noch.
Fühlen und empfangen, wortlos, glücklich, frei, kindlich.
So erzählte sie es mir.
Barfuß, in Shorts, läuft sie morgens an den Rosen vorbei,
die an der Hauswand den Giebel hochklettern, rechts neben der Haustür, rot, süß duftend, für ihre Mutter vom Vater gepflanzt – schweigend und liebevoll,
den ungepflasterten, leicht ansteigenden Weg hoch, die Chaussee überquerend, zu den Nachbarskindern, Zwillingen. Sie mochte Buggi lieber als Werni und ging direkt in die Küche.
Setzte sich selbstbewusst an den Küchentisch und ließ ihre Beine baumeln.
Auf dem Tisch steht schon ihr emaillierter Becher, den sie so liebt und den Oma Devot füllt schweigend mit Kinderkaffee eine Mischung aus viel Milch von der Kuh Emma und Gerstenkaffee.
Werni und Buggi grinsten sie an – es war ganz normal, dass sie mit am Tisch saß, sie gehörten zusammen.
Morgens wurde kaum gesprochen in der hellen Küche mit dem großen Holzkohleherd.
Oma Devot, dicklich, mit schwarzer langer Schürze um den fülligen Bauch, das dünne,
graue Haar aus dem immer glänzenden, leicht schwitzenden, blassen Gesicht, straff nach hinten zu einem Knoten gebunden.
Schweigend, liebevoll, schon das Mittagessen vorbereitend und Buggi, Wernie und Rosa zum Spielen nach draußen schickend.

Teil 2: – 23. Oktober 1960

Der Tag vor dem Geburtstag ihrer Mutter und gleichzeitig der Hochzeitstag ihrer Eltern.
Sie durfte, obwohl es Sonntag war, und am nächsten Tag eigentlich Schule bei ihren Großeltern übernachten.
Abends vor dem Zubettgehen kniete sie, um den Tisch zu erreichen, auf der Ofenbank vor dem großen Kachelofen, der noch nicht beheizt war, denn der Herbst war sehr mild und malte.
Am nächsten Morgen sollte früh aufgestanden werden für die Reise nach West-Berlin zur Tante.

Teil 3: Die Reise

Der Morgen des Reisetages war nicht kühl. Ganz schnell sollte sich Rosa anziehen.
Sie wollte den Pullover nicht über dem grünen Strickkleid tragen.
Könnte abkühlen bis zur Rückfahrt, meinte Oma, und duldete kein weiteres Herumgehäule.
Die gerippte Strumpfhose fühlte sich leicht feucht an, die war von der Tante aus dem Westen.
Oma hatte sie wohl noch am Abend zuvor gewaschen, dachte Rosa, leise vor sich hin schluchzend noch wegen des Pullovers.
Der kamelhaarfarbige Wintermantel, mit den weißen Knöpfen zweireihig, lag auf einem Stuhl bereit.

Ihr kleiner roter Kinderkoffer mit den weißen Punkten stand neben dem Stuhl.
Zurückblickend auf diesen Tag wurde Rosa eines klar. Mehr als das, was sie am Körper trug, durfte sie nicht mitnehmen. Eine Republikflucht sollte nicht erkannt werden.

Oma stand mit dem Rücken zu ihr in ihrem langen, weißen Nachthemd mit Blümchen, ihre Schultern bebten.
Sie ahnte, Oma weinte, schweigend, lautlos.
Es blieb ihr keine Zeit, wegen der Tränen zu fragen.
Ein Auto hupte, ihre Eltern warteten schon vor dem Haus. Sie lief durch den langen Laubengang zur Straße.
Der Vater lächelte.
Hielt die Tür zur Rückbank auf – schweigend.
Sie kroch auf den Rücksitz. Mutter, gut gelaunt, drehte sich zu Rosa nach hinten um und wünschte ihr einen guten Morgen.
So dick bekleidet saß sie unbequem. Der Mantel über dem Kleid und dem Pullover. Die feuchte Strumpfhose kratzte sowie ihr Kleid, gestrickt von Oma.
Sie hielt sich an ihrem kleinen, roten Koffer mit den Punkten ganz fest.
Fühlte sich allein und unwohl.

Oma stand neben dem Auto im Nachthemd, winkte, Tränen liefen über ihre Wangen.
Rosa fühlte, dass auch Tränen ihre Augen füllen wollten.
Ihr Magen und ihr Brustkorb drückten, als würde ihr Inneres versteinern.
Schweigen, bis der Vater losfuhr: „Nicht umschauen – schlechtes Omen“, hörte sie ihren Vater sagen. Rosa schluckte die aufkommenden Tränen zurück in ihren verkrampften Hals.
So beginnt die Flucht aus der DDR am 24. Oktober 1960.
Auch ihre Träume beginnen an diesem Tag. Sie sieht sich im Alter dieses Tages von damals, läuft rufend den Laubengang in Richtung Haus der Großeltern: „Ich bin wieder da!“
Als die Mauer fällt, darf Rosa zurück nach Hause – das aber kein Zuhause mehr war.